Buchcover: Mirjam Bitter "Gedächtnis und Geschlecht"

© Wallstein Verlag, Umschlag­gestaltung: Susanne Gerhards
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Dissertation an der Justus-Liebig-Universität Gießen, eingereicht im März 2013, verteidigt im Oktober 2013, erschienen im Januar 2016 im Wallstein Verlag, 584 S., gebunden mit Schutzumschlag, ISBN: 978-3-8353-1837-3

Abstract

Seit den 1990er-Jahren erleben wir, ausgelöst vor allem durch die Tatsache, dass die letzten Zeitzeug*innen der Schoa nach und nach sterben, eine Konjunktur des Erinnerungsdiskurses. Die Brisanz der Erinnerung liegt in ihrer identitätsstiftenden Funktion. Identität wiederum ist immer schon geschlechtercodiert.

Das Dissertationsprojekt beschäftigte sich mit den Funktionen der Kategorie Geschlecht in der Literatur jüdischer Autor*innen im deutschsprachigen Raum und in Italien, die nach der Schoa geboren wurden. Die Schoa-Literatur als »transgenerationelle[s], zugleich aber auch geradezu transkulturelle[s] und transhistorische[s] Phänomen ist eine der bedeutendsten Traditionslinien der Literaturen ohne festen Wohnsitz« (Ette 2005). Die Studie nimmt so auch die neuere jüdische Literatur in Deutschland, Österreich und Italien als transnationale in den Blick, ohne jedoch nationalliterarische Grenzziehungen gänzlich auszublenden.

Sowohl auf der Inhaltsebene als auch auf der Ebene der narrativen Struktur analysiert sie, welchen Einfluss herrschende Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit etwa auf die Strukturierung literarisch vermittelter Gedächtnisinhalte haben: Was wird überhaupt erinnert? Und wie? Erinnerung funktioniert rekonstruktiv, d. h., sie geht von heutigen Intentionen (was man gewesen sein will) und vom heutigen Bildfundus für die Darstellung der Erinnerung aus. Da die kulturell verfügbaren Bilder und Metaphern geschlechtercodiert sind, beeinflussen Geschlechternormen mit, wie und was erinnert wird.

Literatur kann einerseits, besser als offizielle Mahnmale, auch bislang marginalisierte Aspekte an die Oberfläche bringen und zudem theoretische Überlegungen zur Gedächtnisbildung mit einspielen. Andererseits kann sie tradierte Geschlechterstereotype auch erneut festschreiben.

Inhaltsverzeichnis

Einleitung 7

I. Grundannahmen, Analysebegriffe und Untersuchungsgegenstand 33

I.1 Die Rolle der Literatur in der Auseinandersetzung mit Gedächtnis und Geschlecht 34
I.2 Gedächtnis, Gedenken, Erinnerung, Erinnern und Vergessen 48
I.3 Geschlecht, Gender, Sex und Interdependenzen mit anderen Kategorien 56
I.4 Neuere jüdische Literatur in Deutschland, Österreich und Italien 74

II. Interdependenzen zwischen Gedächtnis und Geschlecht 109

II.1 Die soziale Dimension von Gedächtnis und Geschlecht und deren gegenseitiger (Re-)Konstruktionscharakter in Doron Rabinovicis Ohnehin und Robert Schindels Gebürtig 113

II.1.1 Literarische Gedächtnismotive und deren soziale Bedingtheit 115
II.1.2 (Geschlechter-)Maskeraden und der Wunsch nach Demaskierung der Vergangenheit 126
II.1.3 »[A]uf Flora vergessen?« Zur geschlechtercodierten Legitimitat des Vergessens 149
II.1.4 Vielstimmiges Erinnern oder männliche Rezentrierung? 163
Soziale Rahmungen, (Re-)Konstruktivität, Prozesshaftigkeit, Emotionalität, Selektivität und Pluralisierung 180

II.2 Geschlechtercodierte Gedächtnismedien und -modi 194

II.2.1 Geschlechtercodierte Erinnerungsgegenstande in Gila Lustigers So sind wir 195
II.2.2 Weibliches Gedächtnis, männliche Geschichte? Inszenierungen als Chronistin in Gila Lustigers So sind wir und Eva Menasses Vienna 200
II.2.3 Geschlechtercodierte Körper als Gedächtnismedien in Esther Dischereits Joëmis Tisch, Robert Menasses Die Vertreibung aus der Hölle und anderen Erzähltexten 249
Geschlechtercodierte Medialität und Modalitäten des Gedächtnisses, Autoritätsfragen und Gedächtnisnachträge 305

II.3 Erlösungsfiguren? Geschlechtercodierte Gedächtnis­metaphern zwischen Entsakralisierungs­absicht und Sinnstiftungs­tendenzen 336

II.3.1 Männliche Krisenfiguren vor und auf der Leinwand des Gedächtnisses in Benjamin Steins Die Leinwand, Doron Rabinovicis Suche nach M., Alessandro Pipernos Con le peggiori intenzioni und Massimiliano Bonis La parola ritrovata 339
II.3.2 Der Schleier weiblicher Trauer- und Hoffnungsfiguren in Elena Loewenthals Attese 390
Subjekt-Objekt-Verhältnisse, Deckerinnerungen, Sinnstiftung und der Schamdiskurs zwischen Gedächtnis und Geschlecht 464

Schluss 495

Anhang:

Siglenverzeichnis 520
Primärliteratur 521
Sekundärliteratur 528
Dank 578
Werkregister 583